Kurztext (Beispiel)
Adriens fremder Bruder
Dass die Wohnung klein ist, wusste ich. Er hat es bereits beim zweiten Kaffee erwähnt. Dies ist mir auch ganz und gar egal. Noch nie habe ich mir etwas aus Materiellem gemacht. Höchstens aus Materiellem mit ideellem Wert. Aus Materiellem mit philosophischem, spirituellem, seelischen oder, wenn es denn schon sein muss, mit rein praktischem Wert – weil auf der Welt nun mal alles Fassbare materiell ist und der Mensch ‚irgend etwas essen muss’ und gern in einem geheizten Zimmer schläft. Die Grösse dieses Zimmers jedoch ist nicht wirklich relevant. Hauptsache, die Räume können Geschichten erzählen.
Was mich störte, in dieser kleinen Zweizimmerwohnung, war die totale Abwesenheit eines geistigen Inhalts: Da waren keine Bücher, keine Instrumente, keine Bilder an den Wänden, kein Blatt Papier. Irgendwo im vagen Halblicht des sterbenden Tages haben meine Augen im scheuen Vorbeihuschen dann doch zwei, drei Bücher ausgemacht und der Blick hat sich sofort daran festgesaugt. Er hat es gesehen, ist aufgestanden und hat sie mir gebracht. Ich habe sie sofort erkannt. Jeden anderen hätte ich dafür geliebt, hätte ich diese Titel in seiner Nähe entdeckt. Denn Gabriel Garcia Marquez’ Werke stehen für Geist und Seele. Für Poesie, Klugheit, Romantik; für den Sinn des Lebens. Doch er ist Kolumbianer. Das änderte die Aussage der Anwesenheit dieser Bücher. Marquez’ Werke in Originalsprache können bei ihm aus purem Patriotismus stehen. Womit sonst soll er seine Herkunft preisen? Weder Autoren, deren grosse Namen für seinen Heimat-Kontinenten standen, wie sein revolutionärer Vornamens-Vetter aus Argentinien oder der sozialkritische Schriftsteller Julio Cortásar, waren vertreten. Keiner der zahlreichen, über den Kontinenten hinaus bekannten Filme südamerikanischer Filmemacher wie Tomás Gutiérrez Alea’s „Fresa y Chocolate“ aus Cuba oder Eliseo Subiela’s „Pequeños milagros“ (Argentinien), nicht einmal ein Bildband über den fiebernden Karneval in Rio wollten ein Interesse ausserhalb dieser vier Wände deklarieren. Ich war sicher, dass er keines von Marquez’ Büchern jemals nur aufgeschlagen hatte, vielmehr standen sie da, wie die Kuhglocken in der Schweiz auch dort vor den Häusern hängen, wo es gar keine Kühe gibt.
Wir verbrachten den Abend zusammen, in dem er mir von seiner Familie erzählte. Einer Familie, die durch seine Erzählungen zu nebliger Blässe erstarrte, als hätte er sie für die Dauer seines Aufenthaltes in der reichen Schweiz in einen Dornröschenschlaf versenkt.
Noch während wir den Wein tranken, den ich mitgebracht hatte, sehnte ich mich nach der Essenz dieses Mannes, die es so wenig zu geben schien, wie ein Kind vor seiner Zeugung.
Als ich ging, hätte ich gern zugelassen, dass er mich am Türrahmen seiner kleinen, einsamen Wohnung zurückhielte. Dass er mir sagte, dass er sich kaum in dieser Wohnung aufhalte und deshalb noch keine Zeit gehabt habe, sein kleines Zuhause einzurichten. Sein Gesicht ist so schön, dass ich es ihm ohne zu zaudern geglaubt hätte. Er sieht aus wie Adrien Brody in Roman Polanskis „Der Pianist“. Mit etwas weniger polnischer-französischer Melancholie und weniger italienischer Liebenswürdigkeit. Was mich zur Erkenntnis zwang, dass die Physiognomie allein nur wenig Macht besitzt, einen Menschen zu verraten.
Er hielt mich nicht zurück im Türrahmen, er sagte nicht einmal etwas. Er hat so wenig Worte. Er bot mir keine Hilfe, herauszufinden, wie klug und gebildet er ist – oder eben nicht. Gern hätte ich ihm gesagt, dass Adrien Brody vor allem in seiner Rolle als kluger, intellektuell wie herzensgebildeter Pianist, allen Widrigkeiten zum Trotz, so anziehend auf mich wirkt. Oder Matthiew Mc Fayden in „Pride and Prejudice“ nur in derjenigen des Mister Darsy, weil diese Figur so zurückhaltend elegant, gebildet und doch tief leidenschaftlich und respektvoll ist (und Darsy dann noch in diesem langen Mantel längst vergangener Zeiten flaniert und seine halblangen, dunklen Haare auf eben diesem Mantelkragen enden, mit ihm spielen. So, dass Frau ihm gern hinterherliefe, um diesem erotischen Spiel von Stoff und Haaren zuzusehen, diesem Mann in den hohen Stiefeln, die allein dazu da sind, schwarz und schön zu sein. Um Mister Darsy hinterher zu riechen und zu hoffen, dass er sich umdrehte und sie durch die Mauer vergangener Zeiten hindurch sehen und erkennen könnte).
Nein, im Türrahmen sagte er nichts von der Freude an gewählten Worten, am Denken und Fühlen, an Musik, Literatur, Poesie oder Philosophie. Er hat vor allem von seinem kleinen, leicht beeinträchtigten Sohn erzählt, von seinem, durch die Exfrau verletzten Vaterherz, und sich nach den ausführlichen, etwas lamentierenden – damit ich dem in Spanisch geführten Gespräch folgen kann – Erläuterungen kurz gewagt, mich mit seinen kurzsichtigen Augen zu streifen und zu sagen, dass ich, so wie er mich bis anhin kenne, eine schöne und verehrungswürdige Frau sei. Nur, um sich gleich wieder für diese Aussage zu entschuldigen. Es sei ihm so rausgerutscht, er habe aber, trotz dieses Komplimentes, grosse Wertschätzung für mich. Eine elegante Aussage, durchaus. Ehrlich, anständig und passend zu seinem Gesicht. Und als er Marquez’ Buch „Vivir para contestarla“ in seinen grossen Händen hielt - andächtig, so, wie einer, der nicht lesen kann und jedes Buch für ein unsagbares, sich nie lüftendes Geheimnis hält oder gleichwohl wie jemand, der es kennt und schätzt und sich ehrfürchtig vor den Gedanken des Autors verneigt – drängten sich seine langen, schlanken Finger regelrecht in den Fokus meines Blickes, lenkten ihn vom Spanischen Titel des Buches ab und streichelten meine Seele bereits während des Betrachtens. Solche Hände: Fremd, schmal und in ihnen Weltliteratur. Und als ich die Finger zurückverfolgte, über die Arme hinauf zum Gesicht dessen, dem sie gehören, bebte mein Körper bereits.
Was weiss ich schon von diesem Mann? Der die Welt so kindlich neugierig und unversehrt zu betrachten scheint – trotz aller Verletzungen, die ihm der Alltag, in schmerzlicher Abwesenheit irgendeiner Heimat, zufügt. Von diesem Mann, der Fahrrad fährt wie ein unschuldiger Bub. Fröhlich lachend und in elegantem Mantel ein langsam fahrendes Auto überholt, weil er es eilig hat. An einer viel zu gefährlichen Stelle. Der dann, kaum abgestiegen, wieder überlegt und gelassen wirkt, voller Haltung und Contenance. In seiner einfachen, aber stets gepflegten Kleidung, die, während seiner Arbeit im Krankenhaus, unter einer weissen Schürze verschwindet. Er trägt sie selbstverständlich darunter. Wie eine Frau ihre edle Unterwäsche.
Ich ertappte mich, wie ich diese Hände ersehnte, die viel zu schade dafür sind, was sie beruflich tun. Ich stellte fest, wie ich begann, diesen einfachen Mann zu schätzen für sein grosses Engagement für den kleinen, geliebten Sohn. Weil jedes Mutterherz schmilzt bei einem gütigen Vaterherz.
Ich stand also in diesem Türrahmen, während sich die Zeit leise von uns wegbewegte. Neigte den Kopf und suchte die Wand, um ihn daran anzulehnen. Er las dieses Zeichen, deutete es und trat ein Stück näher an mich heran. Schliesslich lehnte er seinen Kopf an die Nachbarwand und schaute mich einfach nur an. Sein Blick versenkte sich in meine Augen und ruhte sich aus darin. So trug ich diesen Mann in meinem Gesicht. Eine ganze Weile lang. Fühlte ihn in mir und entschloss mich, ihn aufzunehmen in meinem Herzen. So, wie er ist. Mit der Hoffnung, dass die Tiefsinnigkeit seiner Augen die Tiefsinnigkeit seiner Gedanken spiegelt. Den viel zu schmalen Lippen zum Trotz.
In diesem langen Moment wusste ich bereits, dass ich hier das Leben geschehen lassen wollte. Mit aller Zeit, die es für diesen schönsten Moment der Liebe benötigt: Den Beginn. Mit all seiner Tiefeninspiration, seiner Intuition, der Gewalt an Leiden, Sehnen und Fühlen. Ohne ihm gleich zu Beginn, wie in meiner Liebe zu Männern üblich, die Führungsrolle, die Regie streitig machen zu wollen und zu bluten, wenn das Objekt des Begehrens durch den Dolchstoss der eigenen Ungeduld zu früh stirbt.
Warten können, süsse Erfahrung: Hinauszögern bis zur Unerträglichkeit. Tango tanzen: Sich umarmen, ohne sich zu ergeben. Flamenco: Sich umwerben und den Körper des Anderen streicheln, ohne ihn zu berühren. Im Türrahmen den Blick senken, zu sich selbst nach innen schauen, während mich Adrien Brodys Pendant in Gedanken liebt. Es aushalten. Seine Hände imaginär auf der Haut spüren. Seinen Mund in den Haaren. Seine Lippen auf dem Bauch. Seine Fantasie zwischen meinen Beinen. Um dann aufblicken, wenn Körper und Gedanken es nicht mehr aushalten. Wenn das Herz übergeht.
Ich sah, dass er leicht zusammen zuckte, als ich ihm, nach dieser langen Weile, direkt in die Augen sah. Sein Blick offenbarte mir ein Universum. Mein Universum. Sein Atem hob und senkte seine Brust. Seine Hände zitterten leicht. Eine Weile liessen wir unsere Seelen ineinander verweilen. Dann schloss ich erneut die Augen und wandte ihm leise mein Gesicht zu. Lange liess er seinen Blick in mir, küsste damit meine Lider, während seine schlanken Hände meine Wange streichelten. Dann berührten seine Fingerkuppen scheu meine Lippen. Behutsam und sanft, als würden sie, mit der Verzweiflung einer alten Mutter, die kleinen Kugeln eines abgegriffenen Rosenkranzes bewegen. Weiter und weiter. Jede Pore ein Gebet.
Als ich die Augen öffnete, ruhte sein Blick noch immer in mir. Mit der Geduld eines alten Baumes. Liess ihn in mir, wie eine Mutter die Hand ihres Kindes in der ihren lässt, solange das Kind es will. Und als er langsam zu mir her trat, im Wissen, dass die Realität nicht steigern kann, was der Geist in Traum und Gedanken lebt, hob er seine Hand nur langsam, fast traurig, empor zu meinem Gesicht. In der verzweifelten Ernsthaftigkeit des flüchtigen Augenblicks.
Dann hielt sie inne, berührte nur leicht meinen Arm und führte mich daran leicht zur Türe hinaus.
„Komm...“
Und während ich starb in ihm und in der Ewigkeit, in der wir nichts taten, als unsere Blicke ineinander zu versenken in einer Möglichkeit, die nichts tut und alles verspricht:
„Komm....
doch morgen wieder.“